Aus dem Buch wurde traditionsgemäß von Mönchen am Bett eines Sterbenden und danach während seiner Beisetzung laut vorgelesen. Der uns heute bekannte Text stammt aus dem 8. Jahrhundert; vor seiner Aufzeichnung wurden die darin niedergeschriebenen, uralten Lehren von Mund zu Mund weiter gegeben. Das Totenbuch der Tibeter ist ein Wegweiser oder eine Orientierungshilfe für Sterbende, die sie dabei unterstützt auf dem Wege nach dem Tode sich zurechtzufinden. Die Tibeter Lamas geben in dieser Schrift ein so präzises Bild über den Zustand nach dem Tode, dass sich viele Gelehrte westlicher Kulturkreise sagen, es sei tatsächlich möglich, dass sie selbst erfahren haben, wie es im Jenseits aussieht. Viele von ihnen glauben eine verblüffende Übereinstimmung zwischen dem Inhalt des Totenbuches und den Berichten zu entdecken, die von Menschen stammen, die sich bereits im Zustand des klinischen Tods befunden haben.
Die Lehren des Tibeter Buddhismus besagen, dass unser Bewusstsein und unsere Wahrnehmungen, während wir am Leben sind, von den vier Grundelementen der Erde, dem Wasser, dem Feuer und dem Wind bestimmt werden. Wenn wir im Sterben liegen, werden diese ineinander aufgelöst und treten dann aus dem Körper aus, sodass das Bewusstsein nicht mehr im Körper ist. Der Tod ist nur ein Zwischenzustand, das Bardo genannt wird und der mit der Wiedergeburt bzw. Reinkarnation beendet ist. Im Totenbuch steht geschrieben, dass – während der Körper dem Verfall ausgesetzt ist – die Seele auf eine lange Reise geht, und sich bemüht am Ende dieser Reise in einer möglichst vorteilhaften Form wiedergeboren zu werden. Dabei erhält sie Unterstützung von einem Mönch oder Lama, der bereits am Sterbebett damit beginnt den Text rituell vorzulesen. Dieses wird 49 Tage lang fortgesetzt, während der Körper des Verstorbenen oder seine Asche beigesetzt wird.
Dem Buddhismus zufolge muss alles, was einmal entstanden ist, wieder vergehen. Das Leben eines Menschen vollzieht sich inmitten ständiger Veränderungen, trotzdem fürchtet jeder diese Veränderungen und die Vergänglichkeit. Der Grund hierfür ist in unseren Gewohnheiten und in dem Festhalten an alltäglichen Erfahrungen zu suchen. „Diese Welt erscheint uns fest und beständig, wobei es in Wirklichkeit nichts darin gibt, dass nicht vergänglich wäre. Das Leben – wie auch das Wasser, der Schnee und das Eis – ändert ständig seine Form” – sagt der Lama Pema Tschödren. Das, was wir als Leben bezeichnen, ist in Wirklichkeit nichts Anderes als das Nacheinander millionenfacher – voneinander kaum trennbarer und trotzdem voneinander unabhängiger – Augenblicke. Unsere Bewusstseinszustände sind vergänglich, keiner von ihnen dauert ewig; die Erregung wird zum Beispiel von der Beruhigung und die Traurigkeit von Frohsinn abgelöst. Das Totenbuch der Tibeter lehrt uns, dass die Möglichkeit der Wahl in unserer Hand liegt und wir entscheiden können, ob wir an unseren Ängsten und Gewohnheiten festhalten wollen oder die unbegrenzte Freiheit unseres Bewusstseins erkennen.